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Totschlag und die Risiken der stationären Massnahme nach Art. 59 StGB - Ein Fallbeispiel zur Problematik

Aktualisiert: 24. Okt.

Einleitung

Die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme nach Art. 59 StGB stellt eine Möglichkeit dar, den Schutz der Öffentlichkeit bei schweren psychischen Störungen eines Täters sicherzustellen. Gleichzeitig birgt diese Massnahme Risiken, insbesondere im Hinblick auf die potenziell unbefristete Verlängerung und die mögliche Umwandlung in eine Verwahrung nach Art. 64 StGB. Im Volksmund wird die Massnahme nach Art. 59 auch als die "kleine Verwahrung" bezeichnet. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass diese Bezeichnung irreführend sein kann, da sich die stationäre Massnahme von der Verwahrung nach Art. 64 insbesondere durch ihren therapeutischen Ansatz unterscheidet. Das folgende Fallbeispiel illustriert diese Problematik anhand eines Totschlagsverfahrens und zeigt auf, welche Schwierigkeiten bei der Entscheidung für oder gegen eine solche Massnahme entstehen können.


Fallbeispiel: Der Fall von Daniel R.

Daniel R., 38 Jahre alt, wurde wegen Totschlags angeklagt, nachdem er in einem Streit seinen Arbeitskollegen getötet hatte. Der Vorfall ereignete sich in einem Moment, in dem Daniel sich in einem psychischen Ausnahmezustand befand. Seit Jahren litt er an einer nicht diagnostizierten schweren Depression, die in der Zeit vor der Tat durch beruflichen Stress und private Konflikte verstärkt wurde. Zum Zeitpunkt der Tat war er von starken Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und Wut übermannt und verlor die Kontrolle über sein Handeln.

Im anschliessenden Verfahren wurde ein psychiatrisches Gutachten eingeholt, das eine schwere psychische Störung bei Daniel R. diagnostizierte. Die Gutachter kamen zu dem Schluss, dass Daniel zur Tatzeit nur eingeschränkt schuldfähig gewesen sei und dass das Risiko weiterer Gewaltakte bestehe, wenn seine psychische Erkrankung unbehandelt bliebe. Die Staatsanwaltschaft beantragte daher neben einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren auch eine stationäre therapeutische Massnahme nach Art. 59 StGB.


Die Entscheidung für die Massnahme nach Art. 59 StGB

Das Gericht folgte der Empfehlung der Staatsanwaltschaft und ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme an. Gemäss Art. 59 StGB kann eine solche Massnahme dann angeordnet werden, wenn der Täter an einer schweren psychischen Störung leidet und die Gefahr besteht, dass er weitere schwerwiegende Straftaten begehen könnte. In diesem Fall sah das Gericht die Voraussetzungen als erfüllt an: Die schwere Depression von Daniel R. und die hohe Wahrscheinlichkeit eines erneuten Gewaltausbruchs sprachen für die Notwendigkeit einer stationären Behandlung.

Wichtig zu erwähnen ist, dass die Massnahme nach Art. 59 StGB grundsätzlich vor der Freiheitsstrafe verbüsst werden muss. Theoretisch kann es dazu kommen, dass die Massnahme nach beispielsweise drei Jahren beendet wird oder in eine mildere Form, wie eine ambulante Massnahme nach Art. 63 StGB, umgewandelt wird. In einem solchen Fall könnte es sogar sein, dass die Freiheitsstrafe vollständig erlassen wird. Dies bedeutet, dass Daniel R. theoretisch nach drei Jahren entlassen werden könnte, obwohl die ursprüngliche Strafe auf sieben Jahre angesetzt war. Dennoch ist diese Möglichkeit in der Praxis eher unwahrscheinlich, da die Verlängerung der stationären Massnahme um weitere fünf Jahre oft wahrscheinlicher ist, insbesondere wenn keine wesentlichen Fortschritte festgestellt werden.


Problematik der Verlängerung, menschenrechtliche Aspekte und Umwandlung in eine Verwahrung

Ein entscheidender Punkt, der im Fall von Daniel R. problematisch werden sollte, war die Dauer und die mögliche Verlängerung der Massnahme. Nach Art. 59 Abs. 4 StGB wird die stationäre Massnahme zunächst für maximal fünf Jahre angeordnet, kann jedoch wiederholt verlängert werden, solange die Gefahr weiterer Straftaten besteht und keine ausreichende Besserung des psychischen Zustands des Täters eintritt.


Im Falle von Daniel R. zeigte die Therapie während der ersten fünf Jahre nur begrenzte Fortschritte. Die behandelnden Ärzte stuften ihn weiterhin als gefährlich ein, da er nach wie vor starke depressive Episoden und unkontrollierte Wutausbrüche zeigte. Somit wurde die Massnahme um weitere fünf Jahre verlängert. Dies führte bei Daniel zu wachsender Verzweiflung, da er keine Aussicht darauf hatte, sein Leben in Freiheit wieder aufzunehmen, und er zunehmend das Vertrauen in die Therapie verlor.


Der Fall von Daniel R. erinnert an den Fall I.L. gegen die Schweiz, der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden wurde. I.L. wurde zunächst zu einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB verurteilt, verbrachte jedoch die ersten Jahre nicht in einer geeigneten Therapieeinrichtung, sondern überwiegend in Einzelhaft. Der EGMR stellte in seiner Entscheidung fest, dass die über drei Jahre dauernde Einzelhaft eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellte und dass die fehlende angemessene medizinische Betreuung eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellte. Ebenso wurde festgestellt, dass der Freiheitsentzug im Sinne von Art. 5 EMRK widerrechtlich war, da keine geeignete therapeutische Behandlung angeboten wurde.


Die Problematik der fehlenden Therapieplätze ist besonders im Kanton Bern ein bekanntes und drängendes Problem. Die Platznot herrscht nicht nur in den Gefängnissen, sondern auch in forensisch-psychiatrischen Kliniken, in denen es für schwer gestörte Straftäter überhaupt keine Therapieplätze gibt. Der Kanton Bern hat einen Bedarf von rund 30 solchen Plätzen, dennoch müssen verurteilte Straftäter teils Jahre in Gefängnissen auf einen Therapieplatz warten – wie etwa der als "Schläger von Schüpfen" bekannt gewordene Igor L. In der neuen Justizvollzugsstrategie hat die Polizei- und Militärdirektion (POM) aufgezeigt, dass ein Ausbau der forensischen Station Etoine der psychiatrischen Klinik Waldau eine Lösung sein könnte. Diese Kapazitätsprobleme tragen maßgeblich zu den Verzögerungen und zu einer möglicherweise unangemessenen Unterbringung bei, was die Risiken für Menschenrechtsverletzungen weiter erhöht.


Diese menschenrechtlichen Überlegungen sind auch für den Fall von Daniel R. von Bedeutung. Die stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB sollte sicherstellen, dass der Täter eine auf seine psychische Störung abgestimmte Therapie erhält, um ihn zu rehabilitieren. Das Versagen, eine geeignete Einrichtung bereitzustellen, kann nicht nur den therapeutischen Erfolg beeinträchtigen, sondern auch die Menschenrechte des Täters verletzen. Zudem zeigt der Fall I.L. auf, dass eine fehlende oder unangemessene Behandlung in einer ungeeigneten Haftumgebung das Risiko einer langfristigen Freiheitsentziehung erhöht und letztlich zu einer Verwahrung führen kann.


Diese menschenrechtlichen Überlegungen sind auch für den Fall von Daniel R. von Bedeutung. Die stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB sollte sicherstellen, dass der Täter eine auf seine psychische Störung abgestimmte Therapie erhält, um ihn zu rehabilitieren. Das Versagen, eine geeignete Einrichtung bereitzustellen, kann nicht nur den therapeutischen Erfolg beeinträchtigen, sondern auch die Menschenrechte des Täters verletzen. Zudem zeigt der Fall I.L. auf, dass eine fehlende oder unangemessene Behandlung in einer ungeeigneten Haftumgebung das Risiko einer langfristigen Freiheitsentziehung erhöht und letztlich zu einer Verwahrung führen kann.


Schliesslich stellte die Staatsanwaltschaft nach fast zehn Jahren einen Antrag auf Umwandlung der stationären Massnahme in eine Verwahrung nach Art. 64 StGB. Dieser Antrag stützte sich auf die Einschätzung der Gutachter, dass Daniel R. auf absehbare Zeit eine erhebliche Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen würde und dass keine wesentliche Verbesserung seines Zustands zu erwarten sei. Das Gericht stimmte diesem Antrag zu und ordnete die Verwahrung an.


Rechtliche Betrachtung und BGE-Entscheide

Der Entscheid zur Umwandlung einer therapeutischen Massnahme in eine Verwahrung ist ein schwerwiegender Eingriff in die Rechte des Beschuldigten. Das Bundesgericht stellt klar, dass eine Verwahrung nur dann angeordnet werden darf, wenn keine Aussicht auf eine erfolgreiche Therapie besteht und das Risiko für die Öffentlichkeit erheblich ist. In diesem Fall stützte sich das Gericht auf die Gutachten, die keine Besserung des Zustands von Daniel R. prognostizierten.


Der Trechsel Kommentar zu Art. 59 StGB weist darauf hin, dass die Anordnung einer stationären Massnahme grundsätzlich im Interesse des Beschuldigten liegen sollte, da sie eine therapeutische Behandlung und die Möglichkeit der Wiedereingliederung in die Gesellschaft bietet. Doch die potenziell unbefristete Verlängerung der Massnahme kann dazu führen, dass der Beschuldigte de facto länger festgehalten wird als bei einer reinen Freiheitsstrafe. Diese Unsicherheit kann für den Beschuldigten eine erhebliche psychische Belastung darstellen und die Motivation zur Mitarbeit in der Therapie mindern.

Regelmässige gerichtliche Überprüfungen sind hierbei von entscheidender Bedeutung. Das Gericht muss sicherstellen, dass die Massnahme weiterhin verhältnismässig ist und dass sie nicht länger dauert, als es zur Therapie des Beschuldigten erforderlich ist. Die Überprüfungspflicht soll verhindern, dass Beschuldigte ohne Perspektive festgehalten werden, wenn eine Fortsetzung der Massnahme nicht mehr gerechtfertigt ist.


Kommentar zur Entscheidung und Bezug zur EMRK

Der Fall von Daniel R. zeigt die komplexen und problematischen Aspekte der Anordnung einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB auf. Während eine Freiheitsstrafe klar begrenzt ist und nach Ablauf der festgesetzten Zeit endet, kann eine therapeutische Massnahme unter Umständen immer wieder verlängert werden. Dies schafft eine Unsicherheit, die nicht nur für den Beschuldigten belastend ist, sondern auch die Frage aufwirft, ob die Rechte des Täters ausreichend gewährleistet sind.

Besonders im Hinblick auf die Menschenrechte des Beschuldigten sind diese Fragen bedeutsam. Der EGMR-Entscheid im Fall I.L. zeigt, dass eine unsachgemäße Unterbringung und der Mangel an angemessener medizinischer Betreuung die Rechte der Beschuldigten erheblich verletzen können. Die stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB darf nicht zu einer unbestimmten Freiheitsentziehung führen, ohne dass der Betroffene die notwendige Unterstützung erhält. Dies gilt insbesondere für die Einhaltung der Art. 3 und 5 EMRK, die ein menschenwürdiges Haftumfeld und die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs sicherstellen sollen.


Der Basler Kommentar und die aktuelle Rechtsprechung verdeutlichen die Gratwanderung, die bei der Anordnung einer solchen Massnahme notwendig ist. Der Schutz der Öffentlichkeit muss gegen die Rechte des Beschuldigten abgewogen werden, insbesondere in Bezug auf die Verhältnismässigkeit und die Dauer der Massnahme. Im Fall von Daniel R. führte die langjährige Perspektivlosigkeit letztlich zur Verwahrung, was zeigt, wie schnell eine therapeutische Massnahme in eine lebenslange Freiheitsentziehung umschlagen kann.


Fazit

Die Anordnung einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB bietet Chancen, aber auch erhebliche Risiken. Der Fall von Daniel R. illustriert, wie eine solche Massnahme in eine unbefristete Freiheitsentziehung übergehen kann, wenn die Therapie nicht erfolgreich ist. Dies stellt den Grundsatz der Verhältnismässigkeit infrage und zeigt, dass eine solche Entscheidung für den Beschuldigten oft mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass solche Massnahmen sorgfältig geprüft und regelmässig evaluiert werden, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich im Interesse des Beschuldigten und der Öffentlichkeit sind.

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